Ob blasenkrank oder nicht: Vor einem Vorstellungsgespräch, einem Referat oder einer Prüfung meldet sich die Blase bei den meisten Frauen und Männern fast stündlich. Das ist leicht zu erklären: Die Blase wird stark durch das vegetative Nervensystem innerviert. Und so steigen bei Aufregung nicht nur Puls und Schweißproduktion – auch die Toilettengänge werden häufiger.
Wie funktioniert die Blase?
Dass eine gesunde Blase so funktioniert, wie wir es erwarten, ist das Werk mehrerer Muskeln mit unterschiedlichen Aufgaben. Da ist zunächst der Muskel, der die Blase entleert. Er ist die meiste Zeit entspannt, damit sich Urin in der Blase sammeln kann. Nach dem lateinischen Ausdruck für "herabhängen" wird dieser Muskel auch "Detrusor" genannt. Wichtig für die Funktion der Blase ist zudem der Schließmuskel am Blasenausgang.
Gesteuert werden diese Muskeln durch das unwillkürliche Nervensystem. Dabei haben Sympathikus und Parasympathikus jeweils entgegengesetzte Wirkung auf die Muskulatur. So veranlasst der Sympathikus, dass sich der Detrusor während der Urin-Sammelphase so weit entspannt, dass sich die Blase ausdehnen kann. Gleichzeitig sorgt er dafür, dass der Schließmuskel der Blase dicht hält.
Von den Nieren fließt der Urin über die beiden Harnleiter (Ureter) in die Blase. Dort sammelt sich der Urin und unsere Blase vergrößert sich. Sie nimmt bis 500 ml und mehr Flüssigkeit auf. Dabei dehnen sich Blasenwand und Blasenmuskulatur. Ab einer Urinmenge von 200 bis 400 Millilitern meldet die Blase dann Harndrang an das Gehirn. Der Parasympathikus bewirkt schließlich, dass der Detrusor sich anspannt, der Schließmuskel sich entspannt – die Blase leert sich über die Harnröhre (Urethra).
Wenn die Seele auf die Blase drückt
Die Physiotherapeutin Sigrid Klotzbach aus Wiesbaden ist nicht erstaunt, dass viele Patientinnen, die wegen ständigen Harndrangs (Reizblase) zu ihr kommen, zugleich unter ausgeprägter Nervosität leiden: Die Frauen sind unruhig, schwitzen schnell und schlafen schlecht. Zudem klagen sie häufig über Stimmungsschwankungen. "Weitgefasst könnte man bei diesen Patientinnen schon sagen, dass die Blase ein Spiegel der Seele ist", sagt Klotzbach.
Auch Mediziner wie Annette Maleika, Oberärztin an der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg, stimmen der Physiotherapeutin zu: "Ich bin überzeugt, dass es Blasenstörungen gibt, die psychische Ursachen haben." Sicherlich besteht für die meisten Fälle von Reizblase oder Inkontinenz (unkontrollierter Urinverlust) ein körperlicher Grund. "Findet sich klinisch oder urodynamisch aber keine Ursache, ist eine Nachforschung auf psychosomatischem Gebiet gerechtfertigt", meint Maleika. Möglich sind auch Mischformen: So kann eine Frau wegen einer Beckenbodenschwäche unter einer Belastungsinkontinenz leiden, die jedoch durch psychische Faktoren verstärkt wird.
"Wie jede chronische Erkrankung stellt Harninkontinenz eine große Belastung dar und beeinträchtigt das Selbstbild. Insofern sind psychische Faktoren immer beteiligt", sagt Hermann J. Berberich, Urologe und Psychotherapeut in Frankfurt am Main.
Windel als Schutz vor sexueller Gewalt
Zu den psychischen Ursachen von Blasenschwäche gehören nicht nur Stress und Nervosität. "Inkontinenz kann auch ein Zeichen für sexuellen Missbrauch sein", sagt Urologe Berberich, dessen Spezialgebiet Psychosomatik und Sexualmedizin ist. So nässen zum Beispiel manche Mädchen ein, um durch den Uringeruch nicht mehr attraktiv auf den Täter zu wirken.
Inkontinenz als Mittel zur Abwehr ist bei sexuellem Missbrauch bekannt. So berichtet auch Horst Neubauer, Facharzt für Urologie und für Psychotherapeutische Medizin aus Göttingen, von einer 19-jährigen Patientin, die sich durch Einnässen und das Tragen einer Windel vor sexuellen Übergriffen ihres Vaters zu schützen versuchte. Sein Fachkollege Berberich behandelt mehrere Inkontinenz-Patientinnen, bei denen sexueller Missbrauch eine Rolle spielt: "Bislang kennen wir solche Fälle vor allem bei Mädchen. Das heißt aber nicht, dass so etwas bei Jungen nicht vorkommt. Das Tabu, darüber zu reden, ist bei ihnen nur ungleich größer."
Depression, Aggression: ebenfalls mögliche Ursachen für Inkontinenz
Auch wenn Bewohner im Altenheim inkontinent werden, ist dies nicht immer nur körperlich begründet. "Harninkontinenz kann bei ihnen Ausdruck einer Depression sein. Wenn alte Menschen einnässen, wollen sie damit oft auch sagen: 'Mir ist alles egal'", so Berberich. Hinzu kommt, dass für manche Heimbewohner eine nasse Windel oft der einzige Weg sein kann, von den Betreuern Zuwendung zu erfahren. Ständiger Harndrang – nicht unbedingt eine Inkontinenz – ist in manchen Fällen zudem als unterdrückte Aggressionen zu deuten, meint Berberich. "Besonders Frauen mit gehemmten Aggressionen lassen auf diese Weise häufig inneren Druck ab."
Zu den häufigsten psychosomatisch bedingten urologischen Erkrankungen gehört die Reizblase der Frau, weiß Neubauer. Zwar gibt es verschiedene organische Ursachen für einen vermehrten, starken und schmerzhaften Harndrang.
So kann der Reizzustand zum Beispiel durch Entzündungen, Blasensteine oder den Druck von Nachbarorganen ausgelöst werden. Letzteres tritt bei Frauen oft durch die vergrößerte Gebärmutter in der Schwangerschaft auf. Kann der Arzt organische Hintergründe ausschließen, lohnt sich ein Blick auf die seelische Verfassung der Patientin. Möglicherweise beruhen die Beschwerden auf einer Depression oder Angsterkrankung.
Inkontinenz und Blasenschwäche - ein Schrei nach Liebe?
Nicht immer treten psychische Ursachen für Harninkontinenz so deutlich zu Tage wie bei Kindern, die trocken waren, aber wieder zu Bettnässern werden. Während das primäre Einnässen bei Kindern meist nicht durch psychische Faktoren ausgelöst wird, ist die sekundäre Enuresis oft Veränderungen in der Lebenssituation geschuldet, beispielsweise:
- die Trennung der Eltern
- ein neues Geschwisterkind
- ein Umzug
Bei Inkontinenz den ganzheitlichen Ansatz suchen
Viele Beispiele illustrieren, wie die Psyche auf die Blase drückt. Dennoch werden psychosomatische Aspekte bei der Diagnostik von Blasenschwäche zu wenig und zu spät einbezogen, meint Fachmann Neubauer. Er plädiert für einen ganzheitlichen Ansatz: "Bei Harninkontinenz sollte ein Urologe immer auch schauen: Was sagt die Seele und der Körper damit."